Eine neue Völkerwanderung. - Helmut Dahmer, Wien
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- Kategorie: Aktuelles
- Veröffentlicht: Dienstag, 29. September 2015 20:49
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Helmut Dahmer, Wien
Eine neue Völkerwanderung
„Globalisierung“ heißt die Formel, mit der wir die beschleunigte internationale Verbreitung „westlicher“ Techniken, Wirtschafts- und Lebensformen provisorisch umschreiben. Diese „Verwestlichung“ ist von Anfang an, wie die Geschichte der von Europa seit dem 16. Jahrhundert ausgehenden Kolonialisierung der außereuropäischen Länder zeigt – der die innere Kolonialisierung der europäischen Schrittmacherländer vorausging –, auf Widerstand gestoßen. Der bedeutendste dieser „Widerstände“ war in dem Jahrhundert zwischen der Pariser Kommune (1871) und dem Kollaps der Sowjetunion die sozialistisch-kommunistische, antikapitalistische Weltbewegung, die viele Millionen von Menschen in West und Ost, Süd und Nord erfasste und sie zum Aufstand gegen die soziale Ungleichheit im nationalen und internationalen Maßstab rief. Diese Massenbewegung ist inzwischen Geschichte. Sie war keineswegs antiwestlich orientiert, sondern darauf, den in den „führenden“ Ländern erreichten Fortschritt und den Lebensstandard, den die dort lebende Mehrheit zumindest zwischen den periodisch auftretenden Wirtschaftskrisen erreicht hatte, zu verallgemeinern. Was wir heute erleben, ist eine fatale Mutation des früheren, säkularen, prowestlich-antiwestlichen Widerstands. Radikale muslimische Sekten (wie der „Islamische Staat“ und sein Ableger „Boko Haram“), die von theokratischen Ölstaaten (wie Saudi-Arabien oder Iran) gesponsert werden und ihr Heil in der militärisch erzwungenen Rückkehr zu prämodernen Lebensverhältnissen suchen, sind die heutigen „Stellvertreter“ der gescheiterten säkularen Strömungen vom Typus der „nationalen Befreiungsbewegungen“.[1] Die muslimisch-fundamentalistischen Strömungen bedienen sich wie selbstverständlich der (für sie erreichbaren) „westlichen“ Militär- und Kommunikationstechniken, versuchen aber zugleich, der von ihnen beherrschten Bevölkerung eine asketisch-prämoderne Lebensform aufzuzwingen. Sie wollen sowohl die Geschichte vor der Mohammed im 7. Jahrhundert zuteil gewordenen Offenbarung auslöschen (daher die Zerstörung antiker Kulturruinen in Palmyra und anderswo), als auch die Geschichte der westlichen Vorherrschaft und des Niedergangs muslimisch geprägter Länder im vergangenen halben Jahrtausend rückgängig machen. Wie jede erlaubte oder kommandierte Regression ist auch diese für Menschen aller Sozialschichten, die zu den Erniedrigten und Beleidigten gehören oder sich als solche fühlen, attraktiv.[2]